Selbst der Schnee bekämpft uns nun. Er verlangsamt uns und schnappt nach uns, als würde er uns unserer Körperwärme berauben wollen. Er ist Freund und Verbündeter der Verderbten – die Verderbten nutzen ihn als Deckung, verstecken sich darin und schlagen ohne Vorwarnung zu. Wir sind nur aus Fleisch und Blut und die Insel mag zwar vielen von uns die Gnade der Wiedergeburt gewähren, aber sie tut nichts, um die Kälte zu vertreiben. \n\nViele von uns haben Erfrierungen und einige besitzen nicht mehr genug Finger, um eine Waffe zu halten, oder haben nicht mehr die Kraft, weiterzugehen, nachdem ihnen Füße und Zehen abgefroren sind. Einige von uns glauben nicht, dass die Schlucht all das wert ist, und noch viel mehr denken, dass wir bereits gegen die Verderbten und die Elemente verloren haben.\n\nAber wir marschieren trotzdem weiter. Wir kämpfen immer noch weiter. Ich befürchte, dass wir den Verderbten das Herz der Insel preisgeben, wenn wir uns in wärmere Gefilde zurückziehen.\n\nAber wir kämpfen mit vereinten Kräften weiter.

In die Jahre gekommen

Auf der Brücke weht ein eisiger Wind und viele von uns suchen hinter Steinblöcken Schutz. Die Wachen am Ende der Brücke haben nicht so viel Glück – sie müssen sich dem peitschenden Wind entgegenstellen und Ausschau halten, ob ein Angriff bevorsteht. Ob durch Eiswölfe aus dem Osten, deren Zahl zunimmt, oder durch die Verderbniseinfälle im Norden. Sie müssen die Augen offenhalten, selbst auf die Gefahr hin, dass ihnen die Lider einfrieren.\n\nDie beiden Wächter ziehen Strohhalme, um zu entscheiden, wer den Ostrand der Brücke bemannt. So schrecklich ein Angriff der Verderbten auch wäre, der Schatten des alten Tempels und wie die Wölfe von ihm angezogen zu werden scheinen, ist äußerst beunruhigend und belastet das Herz eines Wächters.

Wachwechsel

Der Wächter am Westrand der Brücke hat von einer neuen Entwicklung berichtet – er behauptet, Umrisse gesehen zu haben, die sich durch den Schnee bewegen, außerhalb der Schussweite und in sehr kleinen Grüppchen, um kein Ziel für unsere Belagerungswaffen abzugeben. Aber er sieht täglich ein paar davon – und es gibt keinen Hinweis auf ihr Ziel.\n\n"Ich befürchte, sie verstecken sich einfach unter dem Schnee", murmelte einer der Wächter am Feuer. "Wenn sie da wirklich sind, bemerken wir das erst, wenn wir ihre Klingen an den Kehlen haben."\n\nDer andere Wächter lachte zwar laut auf, aber es klang nicht gerade belustigt. "Das wäre eine Gnade, endlich aus dieser Hölle befreit zu werden."\n\nEs gibt auch noch andere Höllen, dachte ich. Zu Beginn der Jahreszeit hatte ich gesehen, was einem unserer Kundschafter widerfahren war, der nun an der Seite der Verderbten marschierte – und zwar nicht als Sklave, sondern selbst als Verderbter. Es gibt andere Höllen – die Kälte ist nur eine davon und bei Weitem nicht die schlimmste.

Bewegung im Schnee

Die Soldaten desertieren. Die Finsternis, die Wickbury heimgesucht hat, war für alle ein schwerer Schlag, genauso wie die Sichtung der angeblichen Priester, die die Verderbten anführten. Wir kämpfen nicht gegen eine Armee – sondern gegen einen Kreuzzug des Nordens. Der Verlust der Brücke vergrößerte unser Leid nur und viele verloren die Hoffnung. "Wir können keine Flut aufhalten, die bereits unsere Flanken überspült hat und sich nun vor der Brücke auftürmt. Hier wird der Krieg nicht entschieden, wir müssen zurück nach Lichtholz."\n\nSo schwoll das Gerede in den Lagern an. In den Zeiten, in denen wir mit vereinten Kräften kämpften, wäre man für solche Worte ausgepeitscht worden. Das mag zwar grausam erscheinen, war aber wahrscheinlich notwendig. Aber vielleicht war genau das auch der Grund, aus dem die Allianz zerbrach. Viele Tode lassen das Herz versteinern, bis man schließlich gar nichts mehr fühlt. Danach erkennt man kaum noch einen Unterschied zwischen den Verderbten und den Soldaten.\n\nWenn wir uns nicht gegen die Verderbten wehren, werden sie uns vernichten. Und wenn wir uns gegen die Verderbten wehren, werden sie uns ebenfalls vernichten. Beides stellt den Willen auf die Probe und dieser erträgt nur ein gewisses Maß an Leid, bevor er zerbricht.\n\n\n– L. G., amtierender Hauptmann

Wachende

Einer von Rutherfords Kundschaftern ist zurückgekehrt. Er gehörte zu denen, die vom Absud des Lichtsees getrunken hatten, der den Geist stärkte und das Gift der Lande nördlich der Schlucht linderte. Er hatte zwar einiges durchgemacht, kam aber dennoch frohen Mutes und – zu unserer Verblüffung – lächelnd zurück.\n\n"Sie sind nicht einfach nur das, was wir einmal waren", berichtete er. "Sie sind immer noch wie wir. Ich war hinter ihren Befestigungen – sie haben Bauernhöfe. Städte. Sogar etwas, das eine Kirche sein könnte auf dem Berggipfel!"\n\nDie Männer raunten vor Erstaunen und ich wollte wütend zuerst das Wort ergreifen. Aber ich hielt meine Zunge im Zaum, um ihm die Heimkehr nicht zu vermiesen. Trotzdem ärgerten mich seine Worte über alle Maße. Ich werde einen kleinen Spaziergang machen, um meine Gedanken zu sammeln. Dieser törichte Kundschafter weiß gar nicht, was er da in Wahrheit gesehen hat.\n\nWenn wir diesen Krieg bisher noch nicht verloren haben, so ist es mit der Sichtung der Kirche so weit, ob das den Soldaten nun klar sein mag oder nicht.\n\n– L. G., amtierender Hauptmann

Jenseits der Schlucht

Rutherfords Kundschafter berichtete weiter, bis tief in die Nacht hinein, als würden seine Worte Hoffnung spenden. Er erzählte weiter von den Bauernhöfen, den Gebäuden am Bruchberg und der "Zivilisation" im Norden. Als er erneut auf die Kirche zu sprechen kam, hielt ich es nicht mehr aus.\n\n"Du hast also eine Kirche gesehen", hörte ich mich sagen. "Aber die Verderbten haben unseren Wissens nach keine Religion – nicht so wie wir zumindest. Glaubst du wirklich, dass man mit ihnen vernünftig reden kann? Dass wir einfach Frieden schließen könnten? Eine Kirche bedeutet bloß, dass uns eine Kluft trennt, die noch weiter als die Tiefe Schlucht ist – nicht körperlich, sondern geistig. Wir wissen, dass sie uns nicht töten wollen. Willst du wirklich ... dazu übertreten?!"\n\nIch zeigte auf den Gipfel des Bruchbergs, die aus seinem Grund gerissene Insel. "Du glaubst, deine Worte schenken uns Hoffnung auf einen etwaigen Frieden, aber ich sage dir – mit diesem einen Gebäude hast du uns bewiesen, dass es erst einen Frieden geben kann, wenn wir alle wie sie geworden sind und ihrem Glauben angehören."\n\nWir haben keine Chance gegen die Verderbten, wenn sie von einer finsteren Religion angespornt werden. Mir fehlte die Geduld, weiter mit ihm zu reden – ich werde es noch einmal versuchen, wenn ich mich wieder beruhigt habe.\n\n– L. G., amtierender Hauptmann

Die rote Kirche

Rutherfords Kundschafter war zwar durch meine schroffen Worte beschämt worden, erzählte aber nichts mehr von seinen Entdeckungen im Norden und sein hoffnungsvoller Blick verblasste. Sein wiedergefundenes Schweigen belastete mein Gewissen jedoch nicht, da es zu seinem eigenen Besten ist, wenn er schnell die Hoffnung aufgibt und sich von der Wahrheit leiten lässt.\n\nIch befragte ihn gründlich. Er erzählte, dass er tatsächlich Überreste der Soldaten gesehen habe, die wir in den Lagern im Norden verloren hatten. Er habe vieles gesehen ... nicht nur die böse, rot leuchtende Kirche, sondern auch die Arbeit der Verderbten und, was noch schlimmer war ... Anführer. Es gab noch mehr von den Priestern, die wir auf der Brücke gesehen hatten. Viele, die alle ihrer finsteren Religion folgten.\n\nWir hatten bereits auf der Brücke mit angesehen, zu was sie fähig waren ... und in Wickbury. Und bestimmt würden sie es wieder tun. Dass es noch mehr als die drei gab, die wir gesehen hatten, lässt Böses erahnen.\n\n– L. G., amtierender Hauptmann

Noch ein Wort

Was mich fasst verzweifeln ließ, waren die Obelisken, von denen der Kundschafter berichtete. Andere, als wir im Süden gesehen hatten, und anders auch als auf dem Rest der Insel. Seine waren größere, die von den Verderbten ausgegraben worden waren. Es war zwar schon schlimm genug, dass bereits andere Obelisken ausgegraben worden waren ... aber zu allem Überfluss schienen diese dem Schoß der Erde entrissenen Obelisken – der Kundschafter hielt kurz inne, bevor er fortfuhr, wahrscheinlich, weil im endlich klar wurde, was dies bedeutete – diese Obelisken, schienen ... zu leben und schwebten über zystenähnlichen Brunnen. Es waren schwebende Steine wie die auf dem Berg, die von den Verderbten und deren Priestern angezapft wurden.\n\n"Als würden sie Anspruch erheben", stieß ich hervor. Auf meine Worte hin weiteten sich seine Augen, aber noch bevor er seine Verwirrung zum Ausdruck bringen konnte, schnitt ich ihm das Wort ab. "Einen anderen Anspruch als wir. Einen ganz anderen. Einen eigenen Anspruch, der diese Insel verschlingen wird. Und mit unserem Kommen und indem wir ihre Reihen verstärken – haben wir ihnen gezeigt, wie sie uns vernichten können."\n\nWir müssen uns nach Lichtholz zurückziehen. Wir müssen den anderen von unseren Entdeckungen berichten.\n\n– L. G., amtierender Hauptmann

Die Obelisken

Wir zogen uns in den Wald zurück und schonten unsere Schießpulvervorräte. Wir marschierten auf vertrauten Pfaden und führten immer wieder kurze Überfälle auf die Verderbten durch, um uns dann schnell zurückzuziehen, bevor ihre Verstärkung eintraf. Wenn einer von uns fiel, durchbohrte ihn ein Soldat mit der Klinge, damit er schneller wiederauferstand und erneut mit uns an der Front kämpfen konnte. Das Murren unter den Soldaten nahm zwar immer mehr zu, aber einige betrachteten dies als einen spannenden Wettbewerb, wer die meisten Tode verhindern konnte – und wiederum andere als Herausforderung, das Blut der Gefallenen rasch zu vergießen, damit sie möglichst wenig Schmerzen hatten und kampfbereit wiedererwachten.\n\n Wir kämpfen gegen die Verderbten, in deren Reihen unsere Brüder und Schwestern stehen, die ebenfalls zum Kämpfen wiedergeboren zu sein scheinen – wir töten sie wie die Unseren, um ein paar Meter Boden zu gewinnen oder ein Stück einer alten Straße zu halten – um dieses Land zu weihen und das Azoth mit unserem Blut zu gewinnen.\n\nWenn ich auf die Verderbten blicke, die hundert Jahre alte Fetzen oder die verrostete Maske eines Konquistadors tragen, frage ich mich, ob die früheren Siedler auch diesen Kreislauf durchlaufen haben – und dabei allein die Verderbnis gesiegt hat, die sich ausbreitet wie das Blut im Schnee.

Das Schlachtfeld des Wahnsinns

Ich bin Leuten aus dem Süden begegnet, die sich immer noch gegenseitig wegen Holz, Feuerstein und Bauholz bekriegen. Für sie ist dies von großer Bedeutung, aber ihre Worte und Taten erzürnten mich.\n\nErkannten sie den wahren Feind nicht? Betrachteten sie nicht die Hutzeligen, die Gespenster und Verderbten als Symptome etwas weitaus Schrecklicheren? \n\nIn ihren Augen leuchtet das Azoth – und einen kurzen Schreckensmoment lang erinnerten sie mich an das Feuer in den Augen der Verderbten, das böse rote Leuchten, das sie zur Gewalt anzutreiben und zu verzehren schien.\n\nUnd ich fragte mich, ob vielleicht die Verderbten und das Azoth der gleichen Quelle entsprangen, die wir nutzten.

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